Home
Comicographie
Infos
Sonstiges
 A4 - Nachtfahrt

Protagonisten
Antagonisten
Michel Vaillant
Steve Warson
Benjamin Vaillant
Elizabeth Vaillant
Regis Blancardo
Lemaitre
Madame Douleac
Yves Douleac
Mon. Blancardo
Birne
Marcetto
Jules
Titin
Kommissar Hugues
Robert Dhordain
Am 30.3.1960 erschienen im belgischen Tintin (in Heft 13/1960) die ersten Seiten des neuen Vaillant-Abenteuers Nachtfahrt (Route de Nuit). Mit dieser Geschichte startete Jean Graton in ein faszinierendes Vaillant-Jahrzehnt, in dem er seine Talente als Zeichner und Autor voll entfalten konnte.

Nachtfahrt markiert in inhaltlicher Hinsicht eine entscheidende Zäsur im Vaillant-Kosmos. Nachdem in den ersten drei Alben Fahrerwettkämpfe für Spannung sorgten, erzählte Graton nun eine reine Kriminalgeschichte ohne jeden Rennbezug (Michel ist lediglich in einer kurzen Szene als Gast beim Grand Prix von Monaco zu sehen). Diese Tradition führte Graton mit A9 - Verfolgungsjagd in Amsterdam (1963), A16 - Das Geheimnis von Kilometerstein 357 (1968) und A24 - Der Alptraum (1972) fort. Auch in den Alben A7 - Teufelskerle (1962) und A12 - Die Ritter von Königsfeld (1965) tritt das Geschehen auf der Piste deutlich in den Hintergrund. Laut Jean Graton konnten sich die Vaillant-Leser mit diesen Krimigeschichten allerdings nicht recht anfreunden, weshalb er den erzählerischen Fokus wieder verstärkt auf das Renngeschehen richtete. Tatsächlich gab es seit den 70er Jahren kaum noch ein Vaillant-Album, das ohne Rennszenen auskommt.

Mit Nachtfahrt knüpfte Graton an die Kurzgeschichte K5 - Krawall auf der Nationalstraße 7 an, die 1957 in Tintin erschienen war. In Bagarre lernten wir Michels Onkel Benjamin, einen Fuhrunternehmer aus Marseille, und seinen jungen Freund Yves Douleac kennen. Beide tauchen in Nachtfahrt als Protagonisten wieder auf.

Graton startet das vierte Vaillant-Album mit idyllischen Bildern von der sonnigen Mittelmeerküste, die in einem auffälligen Kontrast zur düsteren Atmosphäre des nächtlichen Finales stehen, das ab Seite 42 in geradezu epischer Weise inszeniert wird.
Sorgfältig baut Graton seine spannende Kriminalgeschichte auf, in deren Mittelpunkt der 15jährige Yves Douleac steht. Als angeberischer Halbstarker macht er seiner Mutter, der verwitweten Madama Douleac, und seinem väterlichen Freund Benjamin große Sorgen. Von dem charakterlich verwahrlosten Regis Blanacardo lässt sich Yves gar in Schmuggleraktivitäten verwickeln.

Wie weit das tatsächliche Interesse Blancardos an Yves Douleac geht, lässt Jean Graton zumindest offen. Als sich Michel Vaillant um den Jungen zu kümmern beginnt, scheint Blancardo eine Art Eifersucht auf seinen "Konkurrenten" zu entwickeln ("Du lässt Dich doch nicht von diesem Bleifuss-Cowboy beeinflussen?"), was zu heiklen Spekulationen Anlass gibt. Mehrmals wird im Dialog angedeutet, dass Blancardo zu Yves eine ungesunde Beziehung pflegt ("Sie sind nicht mal im selben Alter! Unter uns, ich bezweifle, dass Régis der richtige Umgang für Yves ist!", "Irgendwie hab ich ein schlechtes Gefühl dabei.") Selbstverständlich konnte diese Thematik im Tintin des Jahres 1960 nur in sehr verklausulierter Form abgehandelt werden. 1962 wird Blancardo erneut als Schurke in Erscheinung treten (A7 - Teufelskerle). Einen letzten Auftritt hat er 1972 in A24 - Der Alptraum, wo er, deutlich gealtert, sein Gnadenbrot als Faktotum einer Gangsterbande fristet.

Graton lässt auf jeden Fall keinen Zweifel daran offen, dass Blancardo als Ersatzvater für Yves völlig ungeeignet ist, während Benjamin Vaillant sehr viel eher für diese Rolle in Frage kommt. Es ist also nur folgerichtig, wenn er und Madame Douleac am Ende des Abenteuers zarte Bande zueinander knüpfen. Zur Hochzeit kommt es dann allerdings erst in den späten 80er Jahren (A49 - Schwere Kaliber). Offensichtlich hat das Paar fast 30 Jahre in wilder Ehe gelebt.

Was Jean Graton und sein Alter Ego Michel Vaillant von "arbeitsscheuen" Halbstarken halten, wird in diesem Album mehr als deutlich. In der Freundesclique von Régis Blancardo finden sich ausschließlich Backpfeifengesichter und Schlägervisagen, die im Angesicht von Steve und Michel feige den Schwanz einziehen. Auch die jugendlichen Nichtsnutze, die auf Seite 32 Saint-Tropez unsicher machen, rufen bei Michel Unmut hervor, "weil ich diese jungen Snobs nicht ausstehen kann". (Halbstarke und Snobs finden sich später unter anderem in A14 - Mach 1 für Steve Warson, K11 - Die Lektion oder A20 - Rodeo auf zwei Rädern.)

In Kontrast dazu wird das kleinbürgerliche Milieu von Benjamin Vaillant oder Madame Douleac in einer betont heimeligen Art dargestellt, die keinen Zweifel daran lässt, wo die Sympathien des Autors Graton liegen. Auch die Trucker von Benjamin Vaillant, arbeitsame und grundsolide Männer, werden in einer sehr wohlwollenden Weise porträtiert. Für Benjamin fahren unter anderem Titin, Bulli, Jules und der stets gutgelaunte Schnurrbartträger Birne, der sich in A24 - Der Alptraum (1972) in selbstloser Weise für Michel einsetzen wird. Auch der Fuhrunternehmer Blancardo, Vater von Régis' und Konkurrent von Benjamin, wird als Ehrenmann von Format geschildert und steht damit in der Tradition von Graf de Chanzy, Louis Latour oder Henri Vaillant. Der Charaktertypus des gütigen, integren Patriarchen ist in den Geschichten von Jean Graton immer wieder anzutreffen.

In Finale um Mitternacht stellt Graton in überzeugender Weise das Trucker-Milieu der frühen 60er Jahre dar, was das Album über seine erzählerischen Qualitäten hinaus zu einem spannenden Zeitdokument macht. Penibel, eindringlich und detailreich erzählt der Autor vom harten Leben auf der Landstraße. Die Monotonie langer Nachtfahrten, die kameradschaftliche Atmosphäre in den Truckerkneipen, der Arbeitsalltag auf den Speditionshöfen, unvermittelte Polizeikontrollen - Graton bildet das Truckerleben in all seinen Facetten ab und fängt dabei das Flair dieser Zeit ein, was der Geschichte eine fast dokumentarische Qualität verleiht.

Als Erzähler und Zeichner gelingt Graton mit der spektakulären nächtlichen Verfolgungsjagd auf den Seiten 47-59 ein Meisterstück, das an Spannung und atmosphärischer Dichte kaum zu überbieten ist. Um den Chef der Schmugglerbande zu fassen, der in einem weißen Jaguar auf der Flucht ist, schaltet Michel Robert Dhordian ein, den Chef des Fernfahrerdienstes. Per Radio werden die Trucker dazu aufgefordert, sich an der Hetzjagd auf den Straßen von Südfrankreich zu beteiligen und den Jaguar einzukreisen. Auf einer Landkarte können wir den Fluchtweg des Jaguars penibel nachvollziehen.

Nachtfahrt ist die erste Vaillant-Geschichte, in der Henri nicht in Erscheinung tritt. Außerdem kommt mal wieder (nach A3 - Angst auf der Strecke) das brisante Thema "Haarschnitt" aufs Tapet: Am Schluss lässt sich der halbstarke "Streuner" Yves die Mähne absäbeln und tritt, korrekt frisiert und im Konfirmandenanzug, vor Michel Vaillant und Madame Douleac, die beide begeistert sind. Die Villa Vaillant in Roquebrune, die hier auf den ersten fünf Seiten eine Rolle spielt, kennen wir bereits aus A2 - Der fahrer ohne Gesicht.

Für die deutsche Albenveröffentlichung bei Carlsen wurde leider nicht das schöne Originalcover des Lombard-Albums von 1962 benutzt, sondern ein weniger markantes Covermotiv.

Die Magazinveröffentlichung von Nachtfahrt wurde im belgischen Tintin in Heft 12/1960 (23.3.) und im französischen Tintin in Heft 602 (5.5.1960) angekündigt.

Zur Infoseite

© aller Abbildungen bei Carlsen / Dargaud / Dupuis / Ehapa / Koralle / Graton Editeur / Lombard / Mosaik / Novedi / Seven Island